Wir im Westen neigen dazu, Perfektion zu bewundern. Die Social-Media-Plattformen sind ja auch voll von angeblich perfekten Menschen und Dingen. Wer schön ist, wer perfekt ist und wer schöne und perfekte Dinge besitzt, hat Erfolg – so lautet das Credo. Mittlerweile macht sich jedoch ein gewisses Unbehagen breit, denn insgeheim wissen wir alle, dass uns dieser Anspruch nach Perfektion nicht wirklich glücklich, sondern eher krank macht.

Doch was macht uns wirklich glücklich?

In der japanischen Kultur gibt es einige wunderbare, sinnvolle und tief gehende Konzepte, von denen wir hier im Westen sehr viel lernen können:  Eines davon ist die Ästhetik des Wabi sabi, einer Philosophie, die von der budddhistischen Lehre geprägt ist. Wabi sabi besagt, dass Schönheit in all jenen Dingen steckt, die unvollkommen, vergänglich oder eben einfach unperfekt sind. Denn perfekt erscheinende Dinge und Menschen sind vor allem eines: oberflächlich, langweilig und austauschbar. Wabi sabi ist die Kunst, im Makel Schönheit zu sehen.

Betrachte deine Welt doch einmal durch die Wabi sabi-Brille! Du wirst Schönheit vor allem da finden, wo du es nie vermutet hättest: In einem bemoosten Stein im Garten, in deiner Lieblingsteekanne, die bereits einen Sprung hat, oder auch im strahlenden, faltigen Gesicht eines alten Menschen.

Die Schönheit im Unperfekten und Vergänglichen sehen

Aus dieser Philosophie heraus hat sich in Japan eine besondere handwerkliche Technik entwickelt, die auf eine lange Tradition zurückblickt: Kintsugi oder die Kunst, Zerbrochenes zu vergolden.

Wenn eine Vase oder eine Schale zerbricht, werfen wir sie meist in den Müll und ersetzen sie durch eine neue. Nicht so in der Tradition des Kintsugi: hier wird zerbrochene Keramik auf eine ganz besondere Weise aufwändig repariert. Es geht hier nämlich nicht darum, den Makel der Reparatur bestmöglich zu kaschieren. Stattdessen wird der Riss selbst durch die Verwendung edler Gold- und Silberpigmente in den Vordergrund gestellt. Denn eine zerbrochene Teeschale wird durch den Bruch nicht minderwertiger als eine neue Schale – ganz im Gegenteil! Durch die aufwändige Restauration erfährt sie eine völlig neue Wertschätzung. Sie ist einzigartig, gerade weil sie einmal zerbrochen war! Eine einfache Teeschale wird so zu einem Kunstobjekt, das seinen Wert durch die Interpretation seines Betrachters erhält.

Kintsugi - die Kunst, Zerbrochenes zu vergolden

Die spirituelle Bedeutung von Kintsugi

Die Kunst des Kintsugi ist sicherlich eine ganz besonders nachhaltige Technik, um alten und zerbrochenen Gegenständen ein neues Leben einzuhauchen. Obendrein hat sie für mich auch zwei wichtige spirituelle Bedeutungen, die stark vom Buddhismus inspiriert sind:

  • Erstens: Wir werden weder reicher noch glücklicher, wenn wir immerzu Neues kaufen.
  • Und zweitens: Der wahre Schatz des Lebens steckt in der Unvollkommenheit und in der Vergänglichkeit. Harmonie finden wir dann, wenn wir beginnen, das Unperfekte zu lieben – und zwar zuallererst an uns selbst!

Wir alle machen nicht nur schöne Erfahrungen im Leben. Wir alle haben Risse und Narben auf der Seele und irgendwann auch Falten im Gesicht. Na und? Wir sind unendlich wertvoll, und zwar gerade deshalb, weil wir im Leben schon das eine oder andere Mal zerbrochen sind.

Daher verstecke nicht deine „Bruchstellen“ im Leben, sondern liebe und vergolde sie! Es sind vor allem die schwierigen Erfahrungen deines Lebens, die Krisen und die Brüche, die du gemeistert hast, die dich zu dem Menschen machen, der du heute bist: Wertvoll. Gereift. Unbezahlbar. Einzigartig.