Die Gruppe der älteren Menschen steht momentan besonders im Fokus. Sie gelten als Risikogruppe und müssen geschützt werden. Insbesondere, wenn sie – wie sehr viele alte Menschen in unserer Gesellschaft – in einem Pflege- und Altersheim untergebracht sind und womöglich pflegebedürftig sind. Und das sind in der Tat erschreckend viele. Damit hält das Coronavirus unserer Gesellschaft gerade mal wieder einen Spiegel vor: Wie gehen wir mit dem Thema Alter um? Woran denken wir, wenn wir an alte Menschen denken? Ein Mantra unserer Gesellschaft lautet: Wer alt ist, wird meist krank und pflegebedürftig. Ein Problemfall. Dieser Mensch braucht Hilfe und kann kein selbstbestimmtes Leben mehr führen. Warum aber sollte ein Mensch, der nicht gebraucht wird, länger leben wollen?

Dass es auch ganz anders geht, beweist ein kleines japanisches Dorf: Ōgimi, auch das Dorf der Hundertjährigen genannt. Es befindet sich auf der Insel Okinawa, ganz im Süden des japanischen Archipels. Die Menschen erreichen hier ein hohes Alter, viele werden sogar weit über hundert Jahre alt. Und dabei erfreuen sie sich größter Zufriedenheit und allerbester Gesundheit! Selbst Hundertjährige kann man hier beobachten, wie sie leichten Sport machen oder Gemüse auf dem Feld ernten. Sie sind glücklich und zufrieden, was sich extrem positiv auf ihr Immunsystem auswirkt. Wenn sie sterben, schlafen sie meist friedlich ein. Altersbedingte Krankheiten, Alters- und Pflegeheime? In Ōgimi Fehlanzeige!

Das Geheimnis der glücklichen Alten

Okinawa gehört zu den sogenannten blauen Zonen, das sind besondere Regionen überall in der Welt, in denen Menschen überdurchschnittlich alt werden. Dazu zählen auch die Inseln Sardinien (Italien), Ikaria (Griechenland), die Nicoya-Halbinsel (Costa Rica) sowie die Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten im Städtchen Loma Linda (Kalifornien).

Die Lebensweise der Bewohner dieser Regionen hat viele Wissenschaftler interessiert. Sie fanden heraus: Neben gesunder Ernährung, regelmäßiger Bewegung und guten sozialen Beziehungen haben die Menschen an diesen Orten vor allem eine Gemeinsamkeit – sie führen ein Leben, welches sie als sinnvoll empfinden.

In Japan nennt man ein solches Leben Ikigai. Das bedeutet: Sie alle haben einen guten Grund, morgens aufzustehen.

In Ōgimi kann diesen guten Grund beinahe mit den Händen greifen. Die Menschen gehen lächelnd und mit heiterer Gelassenheit durchs Leben. Obwohl sie stets auf Achse sind, scheinen sie keinen Stress zu kennen. Viele haben eigene Gemüsefelder und bleiben dadurch bis ins hohe Alter eigenständig. Sie gehen auch nicht in Rente, warum sollten sie auch? In der alten Sprache der Insel kennt man dieses Wort gar nicht. Unabhängig vom Alter wird jeder gebraucht und jeder hat eine Aufgabe, die er liebt und mit großer Gewissenhaftigkeit ausführt: Korbflechten, malen, schreiben oder sich um die Enkel und Urenkel kümmern. Alte Menschen werden geschätzt und geachtet, sie stellen für die Angehörigen keine Problemfälle dar, sondern leisten einen wertvollen Beitrag für die Gemeinschaft. Die Dorfgemeinschaft hat einen hohen Stellenwert: Man hilft sich gegenseitig, wo man kann. Aufgaben, die das Dorf betreffen, werden gemeinsam übernommen. Gemeinsam wird auch gefeiert, getanzt, Sport gemacht und gesungen. Es scheint, dass die Lebensenergie, die in unseren Breiten gerade einmal 70 Jahre ausreicht, hier nach 100 Jahren noch nicht erschöpft ist. Warum sollte auch jemand krank werden oder sterben, der einen guten Grund hat, auf der Welt zu sein?

Wir sind so jung, wie wir uns fühlen

Diesen Zusammenhang hat die Harvardprofessorin Ellen J. Langer in einem originellen Experiment untersucht. Im Jahr 1979 richtete sie für zwei Gruppen älterer Männer zwischen 70 und 80 Jahren je eine getrennte Wohngruppe in einem Schloss ein. Die Senioren wurden dabei ins Jahr 1959 versetzt, in eine Zeit also, in der sie 20 Jahre jünger gewesen waren. Einrichtung, Musik, Filme, Technik, Essen – alles war wie früher. Die Männer schauten Ben Hur im stilgerecht im Schwarz-Weiß-Fernsehen und hörten Musik von „Nat King Cole“. Sie waren völlig eigenständig, kochten, putzten und versorgten sich selbst. Eine Gruppe wurde gebeten, alle Ereignisse, die in ihrem Leben nach 1959 eingetreten waren, komplett auszublenden. Für die andere Gruppe galt diese Einschränkung nicht.

Anschließend wurden die Senioren untersucht und es stellte sich heraus, dass beide Gruppen „jünger“ geworden waren. Die Männer aber, die sich auch gedanklich im Jahr 1959 befunden hatten, waren tatsächlich am „jüngsten“: Ihre Gelenke waren deutlich beweglicher und ihre geistige Aufnahmefähigkeit hatte sich enorm verbessert.

Das Gefühl, wieder  jung, eigenständig und aktiv zu sein, hatte die Menschen tatsächlich verjüngt. Möglicherweise hat auch die Bedeutung und der Sinn, an einem wissenschaftlichen Experiment mitzuwirken, dazu beigetragen.

Warum Sinn gesund hält

Es gibt einige interessante Studien, die belegen: Wer seinem Leben einen Sinn gibt, ist nicht nur zufriedener und gesünder, sondern lebt auch deutlich länger.

Bereits in den 1980er-Jahren forschte der Medizinsoziologe Aaron Antonovsky jenseits des traditionellen Mainstreams nach Faktoren, die Menschen gesund erhalten. Bis dahin hatte sich die Medizin nur damit beschäftigt, was Menschen krank macht. Antonovsky fand drei wichtige Voraussetzungen, die Menschen gesund erhalten:

  • Die Fähigkeit, die Zusammenhänge des Lebens zu verstehen
  • Die Überzeugung, das eigene Leben gestalten zu können
  • Der Glaube an den Sinn des Lebens

Das bedeutet: Wer Probleme und Krisen in einem größeren Zusammenhang sieht, hat weniger Stress und ist gesünder. Wer sich als Gestalter seines Lebens wahrnimmt und weiß, dass das Leben nur Aufgaben stellt, die mit den eigenen Ressourcen gelöst werden können, erlebt Selbstwirksamkeit – der Booster fürs Immunsystem! Und wer seine Energien überwiegend in solche Projekte und Aufgaben steckt, die dem Leben einen Sinn geben, hat größere Chancen auf ein langes und zufriedenes Leben – allen Widerständen und Rückschlägen zum Trotz.

Neuere Studien bestätigen diese Ergebnisse. In einer Langzeitstudie der Universität Michigan aus dem Jahr 1992 wurden 7000 amerikanische Männer und Frauen zwischen 51 und 61 Jahren anhand eines Fragebogens befragt, in welchem Maß sie einen Sinn in ihrem Leben sahen. In den folgenden Jahren stellte sich heraus, dass die Sterbewahrscheinlichkeit bei den Teilnehmern, die keinen Sinn in ihrem Leben sahen, doppelt so hoch war wie bei denjenigen, die ihr Leben als sinnvoll einschätzten.

Zu einem ähnlichen Resultat kommt auch eine Langzeitstudie aus Japan. In der im Jahr 2008 veröffentlichten Ohsaki-Studie wurden über 40.000 Menschen zwischen 40 und 79 Jahren befragt, ob sie der Ansicht sind, ein sinnvolles Leben zu führen. Eine deutliche Mehrheit der befragten Japaner antwortete mit Ja. Nachdem die gesundheitlichen und biographischen Daten über einen 7-Jahres-Zeitraum ausgewertet wurden, zeigte sich, dass es den Ja-Sagern deutlich besser ging. Sie lebten häufiger in einer Beziehung und waren seltener arbeitslos. Zudem gaben sie an, weniger Stress zu haben und gesünder zu sein. Auch ihre Lebenserwartung war höher. Sie starben seltener an Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder durch externe Faktoren.

Was im Leben wirklich zählt

Im Grunde brauchen wir gar keine wissenschaftlichen Untersuchungen, denn wir alle wissen insgeheim: Wenn wir am Ende unseres Lebens angekommen sind und zurückblicken, werden wir uns nicht sagen, dass wir gerne mehr Zeit im Büro verbracht, Karriere gemacht oder mehr verdient hätten. Wir werden uns auch nicht dazu beglückwünschen, täglich 5 Stunden in sozialen Netzwerken unterwegs gewesen zu sein.
Was im Leben wirklich zählt und was ein Leben zu einem sinnvollen Leben macht, leben uns die Hundertjährigen im Dorf Ōgimi eindrucksvoll vor:

Es sind gute Beziehungen, Eigenständigkeit sowie eine als sinnvoll empfundene Beschäftigung im Leben, bei der die eigenen Talente und Werte zum Einsatz kommen. Freude an kleinen Dingen. Dankbarkeit und Gelassenheit. Das Erfolgsrezept eines glücklichen, zufriedenen und langen Lebens ist sehr simpel. Wir müssen es nur umsetzen.

Das heißt aber auch: Wir sollten aufhören, unser Leben in eine produktive Berufsphase und eine passive Altersphase einzuteilen. Wer sich bereits jetzt dafür entscheidet, nur noch das zu tun, was er liebt und das zu lieben, was er tut, wird damit nicht mit 65 Jahren aufhören. Warum auch?

Wie möchtest du auf dein Leben zurückblicken? Was wird dir dann wirklich wichtig sein? Auf was kannst du aber auch gut verzichten? Heute ist ein guter Tag, um damit zu beginnen!

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