Lebe das, was du wirklich bist

Lebe das, was du wirklich bist

Wir Menschen werden eine neue Welt erschaffen. Eine gute, eine menschliche Welt.  Eine Welt, in der wir das sein können, was wir wirklich sind. Dieser Gedanke traf mich heute am frühen Morgen wie ein Blitz, als ich noch fröstelnd am Ufer des Chiemsees stand und dabei zusehen konnte, wie die Strahlen der aufgehenden Sonne den nebligen See in eine glitzernde, funkelnde, wärmende Märchenwelt verwandelten. Und plötzlich wurde mir klar: Alles ist gut. Alles muss gerade so sein, wie es ist. Unsere Welt ist polar. Hell und Dunkel, Tag und Nacht wechseln sich ab. Die Sonne ist immer da. Sie muss aber auch zwischendrin mal schlafen, damit sie am nächsten Morgen umso kraftvoller wieder scheinen kann.

In den letzten Monaten haben wir vermutlich alle ein Wechselbad der Gefühle durchlaufen. Sind die emotionale Achterbahn rauf und runtergefahren und haben gehofft, eines Morgens aufzuwachen und festzustellen, dass wir nur geträumt haben und unser altes Leben wieder da ist.

Doch nein, es ist kein Traum und unser altes Leben wird auch nicht zurückkommen. Nie wieder. Was erst einmal dramatisch klingen mag, ist dennoch eine gute Nachricht:  Möglicherweise werden wir das Alte gar nicht mehr haben wollen.

Dein innerer Kompass zeigt den Weg

Dass wir gerade ordentlich durchgerüttelt werden, ist sicher unangenehm, aber es muss so sein, wenn sich etwas Altes verabschiedet und etwas Neues kommen soll. Wir werden nun vom Leben unaufhaltsam aufgefordert, in uns hinein zu schauen und zu erkennen, wie wir wirklich leben wollen und was unsere wahren Werte sind. Denn im Gegensatz zu früher lässt es sich heute nicht mehr so einfach und komfortabel im alten Trott weitermachen, wenn wir unseren inneren Kompass missachten. Möglicherweise spürst du, dass dein Unbehagen mit jedem Tag größer wird. Vielleicht erkennst du auch, dass dein altes Leben nicht mehr zu dir passt: Das tägliche Hamsterrad, der Job, der gar nicht deinen wahren Talenten entspricht oder der nun vielleicht gar keinen Sinn mehr für dich macht?

Vielleicht navigierst du derzeit noch im Nebel und siehst deinen inneren Fixstern nicht. Das ist in Ordnung – die Seefahrer in früheren Zeiten hatten auch kein GPS und segelten trotzdem unverdrossen weiter. Denn sie wussten, dass ihr Fixstern auch bei Sturm und Nebel immer da sein würde.

Das Navigieren im Nebel verursacht viele negative Gefühle: Angst, Ohnmacht, Wut, Hilflosigkeit. Auch das ist in Ordnung. Akzeptieren wir diese Gefühle! Wir sind nicht auf der Welt, um als Mumie auf der Couch zu liegen, sondern um zu wachsen und uns zu entwickeln. Dazu gehört auch, alle Emotionen anzunehmen und zu transformieren. Die Ursache unserer Angst, unserer Wut und unserer Ohnmacht ist nicht irgendwo da „draußen“, sie ist in uns. Nur wenn wir alle unsere Gefühle annehmen und als zu uns gehörig betrachten, können sie gehen.

Loslassen befreit

Wenn wir den Mut haben, in den Fluss des Lebens zu springen und mit ihm zu fließen, wenn wir all das loslassen, was wir nicht wirklich brauchen, werden wir immer freier werden. An Altem festzuhalten, verursacht immer Schmerz. Eines Tages müssen wir auch unser Leben loslassen und können nichts mitnehmen. Wir sollten uns daher daran gewöhnen, dass nichts bleibt, wie es ist.

„Aber ich muss doch von etwas leben“, ist ein berechtigter Einwand. Das stimmt. Und du wirst auch gut leben können, wenn du dir klar darüber bist, wer du bist und was du möchtest. Du wirst es innerlich spüren, wenn die Zeit zum Loslassen gekommen ist. Es wird plötzlich leicht sein. Solange du noch an etwas hängst, fühlt es sich schwer an, bist du nicht frei. Doch wenn du losgelassen hast, hast du wieder eine leere Hand, die etwas nehmen kann. Neue Türen werden sich öffnen, an Orten, die du vorher nie wahrgenommen hast und wo du nie eine Tür vermutet hättest.

Wir müssen nur alle – nacheinander und jeder in seinem Tempo -losmarschieren und unserer Intuition folgen. Dann wird der Nebel sich lichten. Der Fixstern wird mit jedem Schritt sichtbarer, klarer und deutlicher. 

So schaffst du, das zu leben, was du wirklich bist

Du spürst, dass du bereit bist, loszulaufen? Die wichtigsten Schritte habe ich hier noch einmal für dich zusammengefasst:

  • Definiere deine Werte. Was ist dir wirklich wichtig im Leben? Betrachte nun dein Umfeld, insbesondere dein berufliches: Werden deine Werte dort respektiert? Kannst du ganz du selbst sein? Oder musst du Kompromisse machen, dich gar verbiegen, um deinen Lebensunterhalt zu verdienen? Dann ist es Zeit für eine Veränderung.
  • Entwerfe ein Bild der Gesellschaft, in der du leben möchtest. Wie gehen wir in Zukunft miteinander um, wie behandeln wir die Natur, in der und von der wir leben? Wenn deine Vision mit der Realität nicht übereinstimmt, hast du nun die Möglichkeit, aufzustehen und deine Vorstellung ins Leben zu bringen. Es genügt, wenn du klein anfängst – in deiner Familie, am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft.
  • Welche Aufgabe macht für dich wirklich Sinn? Warum bist du hier? Wie kannst du mit deinen Fähigkeiten dazu beitragen, die Welt ein kleines bisschen besser zu gestalten? Hier sind gar nicht die „großen“ Dinge gefragt. Du hast wunderbare Talente – nutze sie!
  • Welche negativen Gefühle sind noch in dir? Wo verspürst du Wut, Angst, Traurigkeit, Ohnmacht? Kannst du anerkennen, dass andere Menschen nur die Aufgabe haben, dir deine eigenen negativen Gefühle zu spiegeln? Nichts und niemand „da draußen“ wird dich retten. Es ist alles in dir. Du alleine entscheidest, wer du bist.
  • Mitgefühl ist ein wunderbares Gefühl, es befreit und ist der beste Booster für unser Immunsystem. Der Buddhismus spricht von innerer Freiheit: Unsere äußeren Umstände mögen noch so unfrei sein – wir haben dennoch stets die Freiheit, anderen gegenüber mitfühlend, freundlich und zugewandt zu sein.

Ja, auch ich bin diese Achterbahn rauf und runter gefahren, ich habe Wut und Angst und Ohnmacht gespürt. Ich kenne alle diese Gefühle. Doch wenn wir etwas verändern wollen, müssen wir aus dem Drama, welches uns tagtäglich geboten wird, aussteigen und bei uns selbst anfangen. Medienabstinenz hilft ungemein.  Denn unsere neue Welt wird auf dem Miteinander, auf Menschlichkeit, Liebe, Vertrauen und Mitgefühl basieren. Ich weiß zwar nicht, wie lange es dauern wird, aber ich bin mir sicher, dass sie kommen wird. Bist du dabei?

 

Kintsugi – die Kunst, Zerbrochenes zu vergolden

Kintsugi – die Kunst, Zerbrochenes zu vergolden

Wir im Westen neigen dazu, Perfektion zu bewundern. Die Social-Media-Plattformen sind ja auch voll von angeblich perfekten Menschen und Dingen. Wer schön ist, wer perfekt ist und wer schöne und perfekte Dinge besitzt, hat Erfolg – so lautet das Credo. Mittlerweile macht sich jedoch ein gewisses Unbehagen breit, denn insgeheim wissen wir alle, dass uns dieser Anspruch nach Perfektion nicht wirklich glücklich, sondern eher krank macht.

Doch was macht uns wirklich glücklich?

In der japanischen Kultur gibt es einige wunderbare, sinnvolle und tief gehende Konzepte, von denen wir hier im Westen sehr viel lernen können:  Eines davon ist die Ästhetik des Wabi sabi, einer Philosophie, die von der budddhistischen Lehre geprägt ist. Wabi sabi besagt, dass Schönheit in all jenen Dingen steckt, die unvollkommen, vergänglich oder eben einfach unperfekt sind. Denn perfekt erscheinende Dinge und Menschen sind vor allem eines: oberflächlich, langweilig und austauschbar. Wabi sabi ist die Kunst, im Makel Schönheit zu sehen.

Betrachte deine Welt doch einmal durch die Wabi sabi-Brille! Du wirst Schönheit vor allem da finden, wo du es nie vermutet hättest: In einem bemoosten Stein im Garten, in deiner Lieblingsteekanne, die bereits einen Sprung hat, oder auch im strahlenden, faltigen Gesicht eines alten Menschen.

Die Schönheit im Unperfekten und Vergänglichen sehen

Aus dieser Philosophie heraus hat sich in Japan eine besondere handwerkliche Technik entwickelt, die auf eine lange Tradition zurückblickt: Kintsugi oder die Kunst, Zerbrochenes zu vergolden.

Wenn eine Vase oder eine Schale zerbricht, werfen wir sie meist in den Müll und ersetzen sie durch eine neue. Nicht so in der Tradition des Kintsugi: hier wird zerbrochene Keramik auf eine ganz besondere Weise aufwändig repariert. Es geht hier nämlich nicht darum, den Makel der Reparatur bestmöglich zu kaschieren. Stattdessen wird der Riss selbst durch die Verwendung edler Gold- und Silberpigmente in den Vordergrund gestellt. Denn eine zerbrochene Teeschale wird durch den Bruch nicht minderwertiger als eine neue Schale – ganz im Gegenteil! Durch die aufwändige Restauration erfährt sie eine völlig neue Wertschätzung. Sie ist einzigartig, gerade weil sie einmal zerbrochen war! Eine einfache Teeschale wird so zu einem Kunstobjekt, das seinen Wert durch die Interpretation seines Betrachters erhält.

Kintsugi - die Kunst, Zerbrochenes zu vergolden

Die spirituelle Bedeutung von Kintsugi

Die Kunst des Kintsugi ist sicherlich eine ganz besonders nachhaltige Technik, um alten und zerbrochenen Gegenständen ein neues Leben einzuhauchen. Obendrein hat sie für mich auch zwei wichtige spirituelle Bedeutungen, die stark vom Buddhismus inspiriert sind:

  • Erstens: Wir werden weder reicher noch glücklicher, wenn wir immerzu Neues kaufen.
  • Und zweitens: Der wahre Schatz des Lebens steckt in der Unvollkommenheit und in der Vergänglichkeit. Harmonie finden wir dann, wenn wir beginnen, das Unperfekte zu lieben – und zwar zuallererst an uns selbst!

Wir alle machen nicht nur schöne Erfahrungen im Leben. Wir alle haben Risse und Narben auf der Seele und irgendwann auch Falten im Gesicht. Na und? Wir sind unendlich wertvoll, und zwar gerade deshalb, weil wir im Leben schon das eine oder andere Mal zerbrochen sind.

Daher verstecke nicht deine „Bruchstellen“ im Leben, sondern liebe und vergolde sie! Es sind vor allem die schwierigen Erfahrungen deines Lebens, die Krisen und die Brüche, die du gemeistert hast, die dich zu dem Menschen machen, der du heute bist: Wertvoll. Gereift. Unbezahlbar. Einzigartig.

Der Flow-Faktor: Wie du dein wahres Potenzial erkennst

Der Flow-Faktor: Wie du dein wahres Potenzial erkennst

Vielleicht fragst du dich manchmal, woran du denn erkennst, welche Aufgabe denn wirklich DEINE Aufgabe ist – also die Aufgabe, die deine Talente und Herzensthemen vereint und die deinem Leben Sinn gibt. Es gibt tatsächlich einen wichtigen Hinweisgeber: Achte auf Flow-Erlebnisse!

Ganz sicher hast du dieses Gefühl schon erlebt: Du tust etwas, was du liebst und was du richtig gut beherrschst. Du gehst völlig in dieser Tätigkeit auf. Alles fließt von ganz alleine, du denkst überhaupt nicht darüber nach, was zu tun ist oder ob du diese Aufgabe meistern wirst – du weißt es. Die Handlung läuft im Autopilotmodus, du erlebst ein berauschendes Gefühl von Glück und spürst, dass du an irgendetwas Größeres „angedockt“ bist.

Der sogenannte Flow-Zustand geht auf den Glücksforscher mit dem schwierigen Namen Mihály Csíkszentmihályi zurück. Aufgewachsen im Europa der Nachkriegszeit, stellte dieser schon in jungen Jahren fest, wie schwer es den durch die Kriegsjahre geprägten Erwachsenen gelang, dem eigenen Leben einen Sinn zu geben und einfach nur glücklich zu sein. Aufgrund seiner frühen Lebenserfahrungen widmete er sein Lebenswerk einer einzigen Frage:

 

Wann sind wir wirklich glücklich?

 

Mihály Csíkszentmihályi wusste, dass der entscheidende Glücksfaktor nicht das Einkommen sein konnte. Wachsender materieller Wohlstand führt nicht automatisch zu mehr Glück – das belegen Studien. Was war es also denn? Um dem Geheimnis des Glücks auf die Spur zu kommen, führte er Interviews mit Menschen aus ganz unterschiedlichen Berufsfeldern. Er stellte ihnen zwei Fragen:

  • In welchen Momenten sind Sie am glücklichsten?
  • Wann erbringen Sie Ihre beste Leistung?

Dabei fand er folgendes heraus: Menschen, die ihr Leben einem höheren Sinn gewidmet hatten, waren am glücklichsten. Sie erlebten häufig einen ganz bestimmten Glückszustand, den sie mit ähnlichen Worten beschrieben: Ein intensives Erlebnis, eine Art Ekstase oder ein rauschhaftes Erleben – als ob sie sich plötzlich in einer anderen Realität befinden würden. Diejenigen, die besonders viele dieser Erlebnisse hatten, schätzten sich auch als besonders glücklich, kreativ und produktiv ein.

Ikigai heißt im Flow sein

Mihály Csíkszentmihályi nannte diesen Zustand Flow (fließen) und umschrieb ihn als ein vollständiges Einssein mit dem Leben. Die eigene Existenz und die Außenwelt lösen sich für eine Weile auf, Sorgen und Gefühle von Hunger und Müdigkeit sind nicht mehr spürbar. Alles fließt mit Leichtigkeit, Körper und Geist bewegen sich von ganz alleine – im Zustand des Flow hast du das Gefühl, ans Universum „angedockt“ zu sein. Wie in einer unsichtbaren Choreographie wird alles gesteuert, und du könntest ewig so weitermachen…

Flow ist nicht an eine bestimmte Aufgabe gebunden. Flow-Erlebnisse können beim Sport und beim Tanzen ebenso auftreten wie bei künstlerischen Tätigkeiten wie Malen oder Musizieren. Auch bei rein geistigen Aufgaben wurden Flow-Zustände beschrieben. Ein Mathematiker kann Flow ebenso erleben wie ein Musiker, ein Schauspieler oder ein Dressurreiter. Auch meditative Techniken können einen Zustand von Flow herbeiführen. Flow erreichen wir immer dann, wenn unsere Gedanken schweigen.

Dann befindet sich unser Gehirn in einem perfekten Zustand der Harmonie. In diesem Zustand sind wir zu voller Konzentration und Kontrolle über einen längeren Zeitraum fähig. Im Alltag klappt das leider selten, denn unser Gehirn befindet sich dann meist im Chaos. Wir werden ständig abgelenkt, die Gedanken kreisen, dazu kommen Zeitdruck und Hetze, Störungen, der Blick auf das Smartphone, eine neue Email im Posteingang oder eine WhatsApp…

Csíkszentmihályi hat anhand der Erzählungen seiner Interviewpartner die wichtigsten Aussagen zum Flow-Erleben zusammengestellt:

 

Wie fühlt es sich an, im Flow zu sein?

 

  • Du gehst vollständig auf in dem was du tust, bist hoch konzentriert und fokussiert
  • Du fühlst eine Art Ekstase, als ob du dich außerhalb der üblichen Realität befinden würdest
  • Du verspürst eine starke innere Klarheit und Kontrolle – dadurch weißt du genau, was als nächstes zu tun ist und dass alles gut läuft
  • Du weißt, dass du die Aufgabe meistern wirst und dass deine Fähigkeiten der Herausforderung angemessen sind
  • Du spürst eine heitere Gelassenheit, machst dir keine Sorgen und blendest dein Ego aus – es ist dir egal, was andere denken
  • Du hast kein Zeitgefühl, sondern bist ganz in der Gegenwart
  • Du bist intrinsisch motiviert und nicht von äußeren Belohnungen abhängig

 

Wann hast du zum letzten Mal Flow erlebt? Was hast du konkret getan und wie hat sich das angefühlt? War das eher bei einer Freizeitbeschäftigung oder sogar an deinem Arbeitsplatz?

Die Beantwortung dieser Fragen gibt dir deutliche Hinweise auf dein Ikigai. Das berauschende Glücksgefühl erlebst du nur, wenn du intrinsisch motiviert bist, also deine Motivation aus der Tätigkeit selbst beziehst und nicht aufgrund äußerer Anreize und Zwänge.

Übrigens sind uns Kinder da um einiges voraus. Sie erreichen diesen Zustand besonders häufig und mühelos, gehen in ihrem Spiel völlig auf und vergessen alles um sie herum. Für ein Kind, das voller Hingabe spielt, existiert die Außenwelt gar nicht mehr. Als Erwachsene fällt es uns viel schwerer, diesen Zustand zu erreichen. Eines aber steht fest: Flow macht glücklich. Tätigkeiten, die Flow verursachen, solltest du daher so oft und so viel wie möglich ausüben. Schließlich sind es jene Dinge, die du liebst und besonders gut beherrschst. Sie sind ein deutlicher Hinweis auf dein Ikigai – die Aufgabe, die deinem Leben wirklich Sinn gibt und für die du auf der Welt bist. Alles andere sind nur Nebenschauplätze!

 

 

Warum du viel stärker bist, als du glaubst!

Warum du viel stärker bist, als du glaubst!

Vielleicht kommt dir dieses Gefühl bekannt vor: Du würdest gerne ein ganz anderes Leben leben. Etwas anderes tun – das, was du du liebst und was dir wirklich Freude macht. Du hast eine leise Ahnung in dir, dass es richtig sein könnte, dass es dich glücklich machen würde… Doch irgendetwas hält dich zurück. Dein Verstand ist lauter. Unermüdlich bequatscht er dich und redet dir ein, dass es nicht funktionieren wird. Denn dein Verstand weiß bestens, was alles nicht geht. Darin ist er Experte.
Falls du also dieses Gefühl gut kennst, dann habe ich eine schöne Geschichte von Jorge Bucay* für dich. Sie zeigt, dass deine vermeintlichen Fesseln aus der Vergangenheit stammen – und dass du stark genug bist, diese zu lösen!

 

Der angekettete Elefant

 

„Ich kann nicht“, sagte ich. „Ich kann es einfach nicht.“ „Bist du sicher?“ fragte er mich. „Ja, nichts täte ich lieber, als mich vor sie hinzustellen und ihr zu sagen, was ich fühle … Aber ich weiß, dass ich es nicht kann.“ Der Dicke setzte sich im Schneidersitz in einen dieser fürchterlichen blauen Polstersessel in seinem Sprechzimmer. Er lächelte, sah mir in die Augen, senkte die Stimme wie immer, wenn er wollte, dass man ihm aufmerksam zuhörte, und sagte: „Komm, ich erzähl dir eine Geschichte.“
Und ohne ein Zeichen meiner Zustimmung abzuwarten, begann er zu erzählen.
Als ich ein kleiner Junge war, war ich vollkommen vom Zirkus fasziniert, und am meisten gefielen mir die Tiere. Vor allem der Elefant hatte es mir angetan. Wie ich später erfuhr, ist er das Lieblingstier vieler Kinder. Während der Zirkusvorstellung stellte ich das riesige Tier sein ungeheures Gewicht, seine eindrucksvolle Größe und seine Kraft zur Schau. Nach der Vorstellung aber und auch in der Zeit bis kurz vor seinem Auftritt blieb der Elefant immer am Fuß an einen kleinen Pflock angekettet. Der Pflock war allerdings nichts weiter als ein winziges Stück Holz, das kaum ein paar Zentimeter tief in der Erde steckte. Und obwohl die Kette mächtig und schwer war, stand für mich ganz außer Zweifel, dass ein Tier, das die Kraft hatte, einen Baum mitsamt der Wurzel auszureißen, sich mit Leichtigkeit von einem solchen Pflock befreiten und fliehen konnte. Dieses Rätsel beschäftigt mich bis heute.

 

Was hält ihn zurück? Warum macht er sich nicht auf und davon?

 

Als Sechs- oder Siebenjähriger vertraute ich noch auf die Weisheit der Erwachsenen. Also fragte ich einen Lehrer, einen Vater oder Onkel nach dem Rätsel des Elefanten. Einer von ihnen erklärte mir, der Elefant mache sich nicht aus dem Staub, weil der dressiert sei. Meine nächste Frage lag auf der Hand: „Und wenn er dressiert ist, warum muss er dann noch angekettet werden?“ Ich erinnerte mich nicht, je eine schlüssige Antwort darauf bekommen zu haben. Mit der Zeit vergaß ich das Rätsel um den angeketteten Elefanten und erinnerte mich nur dann wieder daran, wenn ich auf andere Menschen traf, die sich dieselbe Frage irgendwann auch schon einmal gestellt hatten.
Vor einigen Jahren fand ich heraus, dass zu meinem Glück doch schon jemand weise genug gewesen war, die Antwort auf die Frage zu finden: Der Zirkuselefant flieht nicht, weil er schon seit frühester Kindheit an einen solchen Pflock gekettet ist.

Bild von AD_Images auf pixabay

Ich schloss die Augen und stelle mir den wehrlosen neugeborenen Elefanten am Pflock vor. Ich war mir sicher, dass er in diesem Moment schubst, zieht und schwitzt und sich befreien versucht. Und trotz aller Anstrengung gelingt es ihm nicht, weil dieser Pflock zu fest in der Erde steckt.
Ich stellte mir vor, dass er erschöpft einschläft und es am nächsten Tag gleich wieder probiert, und am nächsten Tag wieder, und am nächsten… Bis eines Tages, eines für seine Zukunft verhängnisvollen Tages, das Tier seine Ohnmacht akzeptiert und sich in sein Schicksal fügt. Dieser riesige, mächtige Elefant, den wir aus dem Zirkus kennen, flieht nicht, weil der Ärmste glaubt, dass er es nicht kann. Allzu tief hat sich die Erinnerung daran, wie ohnmächtig er sich kurz nach seiner Geburt gefühlt hat, in sein Gedächtnis eingebrannt. Und das Schlimme dabei ist, dass er diese Erinnerung nie wieder ernsthaft hinterfragt hat. Nie wieder hat er versucht, seine Kraft auf die Probe zu stellen.

 

Uns allen geht es ein bisschen so wie diesem Zirkuselefanten: Wir bewegen uns in der Welt, als wären wir an Hunderte von Pflöcken gekettet.

 

„So ist, es Demian, uns allen geht es ein bisschen so wie diesem Zirkuselefanten: Wir bewegen uns in der Welt, als wären wir an Hunderte von Pflöcken gekettet. Wir glauben, einen ganzen Haufen Dinge nicht zu können, bloss weil wir sie ein einziges Mal, vor sehr langer Zeit, damals, als wir noch klein waren, ausprobiert haben und gescheitert sind. Wir haben uns genauso verhalten wie der Elefant, und auch in unser Gedächtnis hat sich die Botschaft eingebrannt: Ich kann das nicht, und ich werde es niemals können. Mit dieser Botschaft, der Botschaft, dass wir machtlos sind, sind wir gross geworden, und seitdem haben wir niemals mehr versucht, uns von unserem Pflock loszureissen.
Manchmal, wenn wir die Fussfesseln wieder spüren und mit den Ketten klirren, gerät uns der Pflock in den Blick, und wir denken: Ich kann nicht, und werde es niemals können.
Jorge machte eine lange Pause. Dann rückte er ein Stück heran, setzte sich mir gegenüber auf den Boden und sprach weiter: „Genau dasselbe hast auch du erlebt, Demian. Dein Leben ist von der Erinnerung an einen Demian geprägt, den es gar nicht mehr gibt und der nicht konnte. Der einzige Weg herauszufinden, ob du etwas kannst oder nicht, ist, es auszuprobieren, und zwar mit vollem Einsatz. Aus ganzem Herzen!“

 

*Jorge Bucay: Komm ich erzähl dir eine Geschichte. Fischer-Taschenbuch

Gib deinem Leben einen Sinn und du lebst länger

Gib deinem Leben einen Sinn und du lebst länger

Die Gruppe der älteren Menschen steht momentan besonders im Fokus. Sie gelten als Risikogruppe und müssen geschützt werden. Insbesondere, wenn sie – wie sehr viele alte Menschen in unserer Gesellschaft – in einem Pflege- und Altersheim untergebracht sind und womöglich pflegebedürftig sind. Und das sind in der Tat erschreckend viele. Damit hält das Coronavirus unserer Gesellschaft gerade mal wieder einen Spiegel vor: Wie gehen wir mit dem Thema Alter um? Woran denken wir, wenn wir an alte Menschen denken? Ein Mantra unserer Gesellschaft lautet: Wer alt ist, wird meist krank und pflegebedürftig. Ein Problemfall. Dieser Mensch braucht Hilfe und kann kein selbstbestimmtes Leben mehr führen. Warum aber sollte ein Mensch, der nicht gebraucht wird, länger leben wollen?

Dass es auch ganz anders geht, beweist ein kleines japanisches Dorf: Ōgimi, auch das Dorf der Hundertjährigen genannt. Es befindet sich auf der Insel Okinawa, ganz im Süden des japanischen Archipels. Die Menschen erreichen hier ein hohes Alter, viele werden sogar weit über hundert Jahre alt. Und dabei erfreuen sie sich größter Zufriedenheit und allerbester Gesundheit! Selbst Hundertjährige kann man hier beobachten, wie sie leichten Sport machen oder Gemüse auf dem Feld ernten. Sie sind glücklich und zufrieden, was sich extrem positiv auf ihr Immunsystem auswirkt. Wenn sie sterben, schlafen sie meist friedlich ein. Altersbedingte Krankheiten, Alters- und Pflegeheime? In Ōgimi Fehlanzeige!

Das Geheimnis der glücklichen Alten

Okinawa gehört zu den sogenannten blauen Zonen, das sind besondere Regionen überall in der Welt, in denen Menschen überdurchschnittlich alt werden. Dazu zählen auch die Inseln Sardinien (Italien), Ikaria (Griechenland), die Nicoya-Halbinsel (Costa Rica) sowie die Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten im Städtchen Loma Linda (Kalifornien).

Die Lebensweise der Bewohner dieser Regionen hat viele Wissenschaftler interessiert. Sie fanden heraus: Neben gesunder Ernährung, regelmäßiger Bewegung und guten sozialen Beziehungen haben die Menschen an diesen Orten vor allem eine Gemeinsamkeit – sie führen ein Leben, welches sie als sinnvoll empfinden.

In Japan nennt man ein solches Leben Ikigai. Das bedeutet: Sie alle haben einen guten Grund, morgens aufzustehen.

In Ōgimi kann diesen guten Grund beinahe mit den Händen greifen. Die Menschen gehen lächelnd und mit heiterer Gelassenheit durchs Leben. Obwohl sie stets auf Achse sind, scheinen sie keinen Stress zu kennen. Viele haben eigene Gemüsefelder und bleiben dadurch bis ins hohe Alter eigenständig. Sie gehen auch nicht in Rente, warum sollten sie auch? In der alten Sprache der Insel kennt man dieses Wort gar nicht. Unabhängig vom Alter wird jeder gebraucht und jeder hat eine Aufgabe, die er liebt und mit großer Gewissenhaftigkeit ausführt: Korbflechten, malen, schreiben oder sich um die Enkel und Urenkel kümmern. Alte Menschen werden geschätzt und geachtet, sie stellen für die Angehörigen keine Problemfälle dar, sondern leisten einen wertvollen Beitrag für die Gemeinschaft. Die Dorfgemeinschaft hat einen hohen Stellenwert: Man hilft sich gegenseitig, wo man kann. Aufgaben, die das Dorf betreffen, werden gemeinsam übernommen. Gemeinsam wird auch gefeiert, getanzt, Sport gemacht und gesungen. Es scheint, dass die Lebensenergie, die in unseren Breiten gerade einmal 70 Jahre ausreicht, hier nach 100 Jahren noch nicht erschöpft ist. Warum sollte auch jemand krank werden oder sterben, der einen guten Grund hat, auf der Welt zu sein?

Wir sind so jung, wie wir uns fühlen

Diesen Zusammenhang hat die Harvardprofessorin Ellen J. Langer in einem originellen Experiment untersucht. Im Jahr 1979 richtete sie für zwei Gruppen älterer Männer zwischen 70 und 80 Jahren je eine getrennte Wohngruppe in einem Schloss ein. Die Senioren wurden dabei ins Jahr 1959 versetzt, in eine Zeit also, in der sie 20 Jahre jünger gewesen waren. Einrichtung, Musik, Filme, Technik, Essen – alles war wie früher. Die Männer schauten Ben Hur im stilgerecht im Schwarz-Weiß-Fernsehen und hörten Musik von „Nat King Cole“. Sie waren völlig eigenständig, kochten, putzten und versorgten sich selbst. Eine Gruppe wurde gebeten, alle Ereignisse, die in ihrem Leben nach 1959 eingetreten waren, komplett auszublenden. Für die andere Gruppe galt diese Einschränkung nicht.

Anschließend wurden die Senioren untersucht und es stellte sich heraus, dass beide Gruppen „jünger“ geworden waren. Die Männer aber, die sich auch gedanklich im Jahr 1959 befunden hatten, waren tatsächlich am „jüngsten“: Ihre Gelenke waren deutlich beweglicher und ihre geistige Aufnahmefähigkeit hatte sich enorm verbessert.

Das Gefühl, wieder  jung, eigenständig und aktiv zu sein, hatte die Menschen tatsächlich verjüngt. Möglicherweise hat auch die Bedeutung und der Sinn, an einem wissenschaftlichen Experiment mitzuwirken, dazu beigetragen.

Warum Sinn gesund hält

Es gibt einige interessante Studien, die belegen: Wer seinem Leben einen Sinn gibt, ist nicht nur zufriedener und gesünder, sondern lebt auch deutlich länger.

Bereits in den 1980er-Jahren forschte der Medizinsoziologe Aaron Antonovsky jenseits des traditionellen Mainstreams nach Faktoren, die Menschen gesund erhalten. Bis dahin hatte sich die Medizin nur damit beschäftigt, was Menschen krank macht. Antonovsky fand drei wichtige Voraussetzungen, die Menschen gesund erhalten:

  • Die Fähigkeit, die Zusammenhänge des Lebens zu verstehen
  • Die Überzeugung, das eigene Leben gestalten zu können
  • Der Glaube an den Sinn des Lebens

Das bedeutet: Wer Probleme und Krisen in einem größeren Zusammenhang sieht, hat weniger Stress und ist gesünder. Wer sich als Gestalter seines Lebens wahrnimmt und weiß, dass das Leben nur Aufgaben stellt, die mit den eigenen Ressourcen gelöst werden können, erlebt Selbstwirksamkeit – der Booster fürs Immunsystem! Und wer seine Energien überwiegend in solche Projekte und Aufgaben steckt, die dem Leben einen Sinn geben, hat größere Chancen auf ein langes und zufriedenes Leben – allen Widerständen und Rückschlägen zum Trotz.

Neuere Studien bestätigen diese Ergebnisse. In einer Langzeitstudie der Universität Michigan aus dem Jahr 1992 wurden 7000 amerikanische Männer und Frauen zwischen 51 und 61 Jahren anhand eines Fragebogens befragt, in welchem Maß sie einen Sinn in ihrem Leben sahen. In den folgenden Jahren stellte sich heraus, dass die Sterbewahrscheinlichkeit bei den Teilnehmern, die keinen Sinn in ihrem Leben sahen, doppelt so hoch war wie bei denjenigen, die ihr Leben als sinnvoll einschätzten.

Zu einem ähnlichen Resultat kommt auch eine Langzeitstudie aus Japan. In der im Jahr 2008 veröffentlichten Ohsaki-Studie wurden über 40.000 Menschen zwischen 40 und 79 Jahren befragt, ob sie der Ansicht sind, ein sinnvolles Leben zu führen. Eine deutliche Mehrheit der befragten Japaner antwortete mit Ja. Nachdem die gesundheitlichen und biographischen Daten über einen 7-Jahres-Zeitraum ausgewertet wurden, zeigte sich, dass es den Ja-Sagern deutlich besser ging. Sie lebten häufiger in einer Beziehung und waren seltener arbeitslos. Zudem gaben sie an, weniger Stress zu haben und gesünder zu sein. Auch ihre Lebenserwartung war höher. Sie starben seltener an Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder durch externe Faktoren.

Was im Leben wirklich zählt

Im Grunde brauchen wir gar keine wissenschaftlichen Untersuchungen, denn wir alle wissen insgeheim: Wenn wir am Ende unseres Lebens angekommen sind und zurückblicken, werden wir uns nicht sagen, dass wir gerne mehr Zeit im Büro verbracht, Karriere gemacht oder mehr verdient hätten. Wir werden uns auch nicht dazu beglückwünschen, täglich 5 Stunden in sozialen Netzwerken unterwegs gewesen zu sein.
Was im Leben wirklich zählt und was ein Leben zu einem sinnvollen Leben macht, leben uns die Hundertjährigen im Dorf Ōgimi eindrucksvoll vor:

Es sind gute Beziehungen, Eigenständigkeit sowie eine als sinnvoll empfundene Beschäftigung im Leben, bei der die eigenen Talente und Werte zum Einsatz kommen. Freude an kleinen Dingen. Dankbarkeit und Gelassenheit. Das Erfolgsrezept eines glücklichen, zufriedenen und langen Lebens ist sehr simpel. Wir müssen es nur umsetzen.

Das heißt aber auch: Wir sollten aufhören, unser Leben in eine produktive Berufsphase und eine passive Altersphase einzuteilen. Wer sich bereits jetzt dafür entscheidet, nur noch das zu tun, was er liebt und das zu lieben, was er tut, wird damit nicht mit 65 Jahren aufhören. Warum auch?

Wie möchtest du auf dein Leben zurückblicken? Was wird dir dann wirklich wichtig sein? Auf was kannst du aber auch gut verzichten? Heute ist ein guter Tag, um damit zu beginnen!

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